nvv fragmenta 1:

Literarische Trümmer


Das kristallene Schiff

Das kristallene Schiff sind zwei "Kapitel" einer Nun-doch-nicht-Geschichte aus dem Jahr 1996, dem Jahr, in dem wir auch die Reißprobe geschrieben haben. Entstanden aus einem Traumfragment (ich kann mich nur äußerst selten an meine Träume erinnern) und fortgeschrieben durch einen Tagtraum übt Das kristallene Schiff auf manche eine eigene Magie aus. Für mich selbst ist der Text zwiespältig, einerseits versinke ich wieder und wieder darin und erlebe den Text, andererseits erzeugt er ein Unbehagen und Unzufriedenheit in mir. (Jens Bischoff).

1 Das kristallene Schiff

Die Nacht war stürmisch, Regen peitschte durch die Dunkelheit. Ich stapfte über die Felsen, immer am Rande der Klippen, völlig durchnäßt trotz des Ölzeugs, in dem ich mich nahezu zu verbergen suchte. Sturzbäche aus Regen strömten über mein Gesicht, mein Bart triefte vor Nässe, was mich veranlasste, den Südwester tiefer ins Gesicht zu ziehen. Durch die von Regen- und Sturmwolken verhangene, mondlose Nacht zuckten hie und da einige Blitze, Donnergrollen vervollständigte die Geräuschkulisse aus dem Prasseln der Regentropfen, dem Rauschen der Brandung und dem Klatschen der Gischt auf den Strand tief unter mir. Und doch schien der Ort, von Licht durchflutet zu sein.

Mein Blick wandte sich zur See, am Horizont wurde ich ein Funkeln gewahr, das mich gefangen hielt. Wieder und wieder mußte ich hinaus aufs Meer schauen, wobei ich über den Pfad mehr stolperte als ging. Schließlich blieb ich stehen, denn das funkelnde Etwas wurde größer und größer, es hatte mich gänzlich in seinen Bann gezogen. Das Etwas näherte sich zusehends und stellte sich letztlich als ein Schiff heraus—ein kristallenes Schiff. Ich folgte einer Verzweigung des Pfades und eilte hinunter zum Strand, denn dort, so schien es, würde das kristallene Schiff anlanden. Die Segel wurden gerefft, bald eingeholt. Wen oder was würde es bringen? War dieser gottverlassene Strand wirklich seine Bestimmung? Ich wartete, ich erwartete das Schiff. Ein Sehnen machte sich in mir breit, ich wußte nicht, warum, und auch nicht, was es war, das ich ersehnte. Allein, ich konnte nicht anders, als auszuharren, die Kälte des Windes, die alles durchdringende Nässe, sie machten mir nichts mehr aus, konnte nur noch stehen, starren, warten…

bibi--bibipp, bibi--bibipp… Das erbarmungslose Piepen des Weckers schreckte mich aus dem Schlaf, in die Welt der Toten und innerhalb von Sekundenbruchteilen wieder zurück. Es war halb sechs, und einer dieser langweiligen Tage, die mein Leben ausmachten, lag wieder einmal vor mir.

2 Moloch

Ein hastiges Frühstück unter dem Einfluß gefährlicher, aber legaler Drogen—Koffein, Radio (Hochstift)—und schon wieder spät dran, auch wenn die Arbeit durchaus ein wenig wartet. Schlaftrunken mache ich mich auf den Weg zu meiner kleinen, blauen Blechkiste, die mich zum Ort meines derzeitigen zentralen Lebensinhaltes bringen sollte.

Dort angekommen: hinab in die Katakomben, Kleider vom Leib, Schutzlatzhose an, stählerne Klumpfüße ersetzen die Schuhe, hinauf in das Monster Produktionsstätte. Beton unter den Klumpfüßen, tonk tonk, mit jedem Schritt, tonk tonk, Rasseln, Zischen, Lärm von allen Seiten, ich verstopfe mir die Ohren mit gelbem Schaumstoff. Der kleine Große Bruder erwartet, daß ich mich bei ihm melde, und ich tu ihm den Gefallen, füttere seinen gierigen Schlund, oh-kej, den kleinen Schlitz an der Seite eines seiner vielen Gesichter, mit jenem kleinen, orange-weißen Etwas, das sich von den anderen Etwasen, die er sonst vernascht, hauptsächlich durch eine Nummer, riesengroß, und das ein bißchen ockrige Orange unterscheidet.

PIE-IE-IEP. Wie zum Hohn unterstreicht er dieses Geräusch mit dem Wort 'Danke' in seinen Augen.

Den anderen Mietsklaven ein griesgrämig-freundliches 'Morgen' an den Kopf geworfen, das ebenso griesgrämig--freundlich erwidert wird. Die Tretmühle erwartet mich, wie sie jeden anderen erwarten könnte. Ein Dreh, ein klick, die Fron liegt nur noch drei Knopfdrücke entfernt. Ein Griff nach links, etwas Fett, zwei Griffe nach vorne, zwei Griffe nach oben, zwei Knöpfe, uhn--tschack, brrrrrrn--tack, ein Griff nach rechts oben, dann nach rechts, uh–nd fallen lassen, br--plink. Und das gleiche noch einmal, und das gleiche noch einmal, und das gleiche noch… Seven hundred times a day, a hundred repeats an hour, every thirty--six seconds again. Wieder und wieder, ein Mantra das nicht gesprochen, nicht in Gedanken wieder und wieder wiederholt wurde, sondern das immer und immer wieder vollführt wurde, wieder und wieder, im Auftrage Fallerslebener Blechkistenmanufakturen. Das Glaubensbekenntnis der modernen Gesellschaft, schaffen, schaffen, erschaffen, mehr und mehr, wieder und wieder, nehmen und nehmen, gebrauchen, verbrauchen, aufbrauchen, aufzehren, verzehren.

Und wahrlich, es verfehlte seine Wirkung nicht. Mein Bewußtsein, soweit es überhaupt schon wieder erwacht war, verabschiedete sich – pfwuomp – annähernd vollständige Leere machte sich breit. Breit, breit, bereit, ich entrückte in Tagtraumwelten, ein warmer Lichtstrahl tastete sich durch eine der Luken, die den künstlichen Himmel aus Stahl und Beton durchbrach, fand und blendete mich. Nichts sehen im Gleißen, und das Mantra harrte seiner Erfüllung, uhn--tschack, brrrrrrn--tack, br--plink, der kleine Große Bruder schrieb weitere 0,01 Gnubbas meinem Konto gut, uhn--tschack, brrrrrrn--tack, br--plink. Before you slip into unconsciousness I'd like to have another kiss, another flashing chance at bliss, another kiss…

Psychedelische Musik bemächtigte sich meiner, weit weg, weit unter mir, jenseits des Randes der Klippen, auf denen ich bei Sturm und Regen und nächtens umherstolperte, sah ich ein Schimmern, das Funkeln eines Kristalles, ein kristallenes Schiff. Ich rannte einen Pfad hinunter zum Strand, in Erwartung dessen, was da kommen möge. Sehnsucht, so durchfuhr es mich, ein Sehnen, das mir unerklärlich war, doch ich wußte das seine Erfüllung dort draußen lag, sie näher und näher kam, so wie sich das Schiff dem Strand, und damit mir näherte.

Copyright für "Das kristallene Schiff" © 1996 by Jens Bischoff


Copyright © 2004 by non volio