nvv fragmenta 1:

Literarische Trümmer


Früherkennung

Früherkennung heißt ein Kapitel der Reißprobe, und tatsächlich hat dieser Trümmer auch eben dort seinen (un-)gebührlichen Platz gefunden. Sein Titel rührt daher, dass damals bei meinem Vater in einer Vorsorgeuntersuchung Krebs diagnostiziert wurde. Sein Inhalt hat, wie eigentlich immer bei der Reißprobe, nichts mit dem Titel zu tun, der sollte eher etwas wie Ferngesteuerte Zombie-Greisinnen sein. Während in der Reißprobe das Surreale das Normale ist, zeigt dieser Text für sich, wie das ungewöhnliche, normale Plätschern des Alltags mit dem "falschen" Blickwinkel abnorm wird. "Thank you. You just made my day a little more surreal." (aus einem Calvin & Hobbes-Comic) (Jens Bischoff)

Früherkennung

"Soldaten sind Mörder," rezitierte Hieronymus Geyersteen aus dem Kommentar seiner Leib– und Magenzeitung Couturier de la Lotophrasie Transalpine. Das klein gewachsene Männlein, dessen Nase seinem Namen alle Ehre machte, zog die Winkel seines schmalen Mundes verstört nach unten. Das letzte Mal als er solche Aussprüche gehört hatte, war er selbst noch dienstverpflichtet in einer Armee gewesen. Schon damals hatten ihn diese Worte unheimlich gestört, denn in den dreieinhalb Monaten seiner Dienstzeit hatte er ganz bestimmt niemanden umgebracht — jedenfalls niemanden, den er als Zivilist nicht auch ungestraft getötet hätte —, und soweit seine Erfahrungen und Kenntnisse reichten, war wohl auch sonst kein Angehöriger dieser Streitkräfte dazu in der Lage, so etwas zu tun. Ehrlich gesagt, der Dienst in dieser Armee war in keinster Weise darauf ausgerichtet, aus den darin Dienenden mehr als schlechte Sportschützen zu machen.

Hieronymus blätterte mit einer heftigen Geste weiter zum Wirtschaftsteil, wo heute ein Portrait seiner Lieblingsgartenwirtschaft erscheinen sollte. Mit Mißmut mußte er lesen, wie das Rosenresl niedergemacht wurde. Wurde der von ihm geliebte Nelkenduft noch als nur nervig–aufdringlich bezeichnet, so wurde das nun wirklich hervoragende Labskaus–Gericht mit Brennesselsalat und Käsekruste gar als ungenießbar bezeichnet. Nun, eigentlich müßte Hieronymus diesen Schreiberlingen ja recht geben, aber das Rosenresl war nun einmal sein Lieblingslokal, schließlich gab es in seinem quartier nur dieses eine, und das Personal war ausnehmend zuvorkommend, wenn nicht gar herzschmerzbereitend. "…st fünf Uhr, guten Morgen, wir bringen Nachrichten. Courville–sûr-klick" Es war Zeit zu gehen. Ein langer, anstrengender Tag wartete auf ihn.

Es war Nacht, eine fast undurchdringliche Dunkelheit, wenn da nicht die Quecksilberdampflampen der Straßenbeleuchtung wären. Und es war noch sehr früh, nicht einmal die Fahrzeuge der arbeitenden Bevölkerung, die sie zum Ort ihres Broterwerbs bringen sollten, waren unterwegs. Vermutlich nicht ungewöhnlich, aber wie konnte Geyersteen das wissen, er war üblicherweise um diese Zeit noch nicht unterwegs. So schlurfte er durch die einsame, beängstigende Dunkelheit dem konspirativen Treffpunkt entgegen. Es war schon irgendwie bemerkenswert, mitten in einem zivilisierten Gebiet allein zu sein, in diesem Alleinsein nur gelegentlich aufgeschreckt zu werden von Greisinnen, die ihre Häuser verließen und, als seien sie ferngesteuert, einem gemeinsamen Ziel zusteuerten. Hieronymus ließ sich dadurch aber nicht beeinflussen, zumindest dachte er das, auch er strebte seinem Ziel zu. Dort eilenden Schrittes beinahe angelangt, vernahm er ein andauerndes, schnatterndes Geräusch, das den Überfall eines Schwarmes von Wildgänsen erahnen ließ, mit klopfendem Herzen schritt er voran. Ein Bild, das er nie würde vergessen können, breitete sich vor ihm aus: Der Wildgansschwarm verwandelte sich in eine Horde schnatternder Seniorinnen, die auf ihn warteten. Die ferngesteuerten Greisinnen also waren seine geheimnisvolle Verabredung. Nun, warum hatte er sich auch dazu breitschlagen lassen, an einer Kaffeefahrt teilzunehmen. Das war jetzt nicht mehr zu klären, also mischte er sich unter das Volk und begann den üblichen Small–Talk über Todesfälle, Krankheiten, Hochzeiten usf. Dabei konnte er es leider nicht verhindern, selbst zum Gegenstand des Gespräches zu werden, denn Exoten, i.e. ein Mann allein unter Frauen, gehören auch zu den üblichen Small–Talk–Themen. Es blieb ihm nichts, als sich zu ergeben und auf den Bus zu warten.

Copyright für die "Früherkennung" © 1996 by Jens Bischoff und non volio


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