Marginalia Futurologica 18 (2011)

Nenas 99 Luftballons (1983) – eine postnukleare Dystopie

Die erste Hälfte der 1980er stand seit dem NATO-Doppelbeschluss 1979 im Zeichen des verschärften atomaren Rüstungswettlaufs. Die Welt schien sich auf den Atomkrieg zuzubewegen, die beiden Blöcke des Kalten Krieges standen sich waffenstarrend gegenüber. Menschen überall auf der Welt träumten von einer Welt ohne Waffen, die in Frieden leben kann. Die Friedensbewegung fand ungeahnten Zuspruch, die Partei der Grünen wurde zur dauerhaft teilhabenden politischen Kraft.

Künstler brachten dieses Unbehagen in verschiedenen Formen zum Ausdruck. Dazu gehört, prägend für eine ganze Generation junger Leser, Gudrun Pausewangs Jugendroman „Die letzten Kinder von Schewenborn“ (1983) genauso wie etwa die Filme „The Day after“ (1983) und „Wargames“ (1983) – und das alles in einem Jahr. Weitgehend unbekannt geblieben ist bis heute, dass die Welt in genau diesem Jahr 1983 ähnlich wie in der Kuba-Krise am Rande des atomaren Weltkrieges stand: Mit der RYAN-Krise gipfelte ein Jahr voller Missverständnisse und Provokationen auf beiden Seiten des Kalten Krieges im Herbst 1983: Mit scharfen Atombomben bewaffnet standen Kampfjets des Warschauer Paktes mit laufenden Triebwerk auf Flugplätzen der DDR, bereit loszuschlagen gegen den erwarteten Angriff aus dem Westen.

In genau dieser Tradition steht Nenas „99 Luftballons“ aus dem Jahre 1983.



Hast du etwas Zeit für mich

Dann singe ich ein Lied für dich

Von 99 Luftballons
Auf ihrem Weg zum Horizont
Denkst du vielleicht grad an mich




Ein Ich-Erzähler tritt auf und bittet um unsere Aufmerksamkeit.

Die ältesten Geschichten der Menschheit wurden als Lieder weitergegeben. Der Poet sitzt inmitten seiner Zuhörer und präsentiert stolz seine Erzählung nu scylun hergan heißt es in Caedmons Hymnus: „Lasst uns loben“. Melodie und Rhythmus halfen dem Poeten, die Handlung ohne Aufzeichnungen, ohne Textvorlage zu memorieren. An dieser Stelle im Lied wirkt es als böses Omen, als letztlich erst aus der letzten Strophe verständlicher Hinweis auf den nuklearen Weltuntergang.

Die 99 Luftballons sind dabei noch ein zutiefst harmloses Bild, das als bewusster Kontrast zur weiteren Erzählung gewählt ist. Der Horizont deutet die gedankliche Weite der Erzählung an.


Dann singe ich ein Lied für dich
Von 99 Luftballons
Und dass sowas von sowas kommt

Erneut tritt der Erzähler an uns heran und deutet in der letzten Zeile der ersten Strophe eine Moral der Geschichte an.

99 Luftballons
Auf ihrem Weg zum Horizont
Hielt man für UFOs aus dem All
Darum schickte ein General
'ne Fliegerstaffel hinterher
Alarm zu geben, wenn's so wär
Dabei war'n dort am Horizont
Nur 99 Luftballons

Die immer griffige UFO-Geschichte wird bemüht, um die Geschichte mit ein wenig Science-Fiction zu bekleiden. Die Frage jedoch war während des Kalten Krieges durchaus relevant: Sind Radarechos nun feindliche Flieger oder nur Luftballons?


99 Düsenflieger
Jeder war ein großer Krieger
Hielten sich für Captain Kirk
Das gab ein großes Feuerwerk
Die Nachbarn haben nichts gerafft
Und fühlten sich gleich angemacht
Dabei schoss man am Horizont
Auf 99 Luftballons


Hier entspinnt sich die apokalyptische Vision: Kann ein Krieg aus Versehen ausbrechen? Können durchgeknallte Einzelne die Zivilisation in den Abgrund reißen? Die Frage beschäftigte nicht nur Stanley Kubrick in Dr. Strangelove oder im Film Wargames. Solange Massenvernichtungswaffen existieren, bleiben solche Fragen aktuell. Der mit den UFOs bereits angedeutete SF-Bezug wird hier durch den Hinweis auf Captain Kirk vertieft.


99 Kriegsminister
Streichholz und Benzinkanister
Hielten sich für schlaue Leute
Witterten schon fette Beute
Riefen: "Krieg!" und wollten Macht
Mann, wer hätte das gedacht
Dass es einmal so weit kommt
Wegen 99 Luftballons
Wegen 99 Luftballons
99 Luftballons

Die Anti-Kriegs-Rhetorik der Friedensbewegung scheint hier durch. Es geht an dieser Stelle im Narrativ des Liedes schon längst nicht mehr um machtgierige Kriegsminister, sondern um den Automatismus moderner Kriegführung. Und so ist der Krieg tatsächlich da, und so kommt es, wie es kommen muss…


99 Jahre Krieg
Ließen keinen Platz für Sieger
Kriegsminister gibt's nicht mehr
Und auch keine Düsenflieger
Heute zieh ich meine Runden
Seh die Welt in Trümmern liegen
Hab 'n Luftballon gefunden
Denk an dich und lass ihn fliegen


Die Apokalypse wird wieder aufgenommen: Die postnukleare Welt in Trümmern ist das Thema einer Reihe Untergangsszenarien, seien es nun Billy Joels Song „Miami 2017“, „Land of Confusion“ von Genesis oder Filme etwa wie „Mad Max“ oder eben „Resident Evil“. Selbst der „Star Trek“-Film „First Contact“ spielt in dieser in Trümmern liegenden Welt. Kann diese Welt Hoffnung haben? Der Luftballon erscheint erneut als das kindliche Symbol der Unschuld und des Friedens.



D’Escier @ non volio 2011