Das
Pläneschmieden ist aus der Mode gekommen. Pläne und Gedanken
mit visionärer
Kraft sind selten geworden. Gehandelt wird heute - wie es scheint - nur
noch
bis zum nächsten Tag oder bis zur nächsten Wahl.
Die Zementierung des erreichten Status quo scheint Hauptmaxime
allen Handelns geworden zu sein. "Veränderung ist negativ!"
scheinen
sie uns zuzurufen, jene, die gerade versuchen, mit politischen Rezepten
aus dem
19. die Aufgaben des 21. Jahrhunderts anzugehen. Ideen, die den
kreativen
Schwung mitbringen, das Hier und Heute in Frage zu stellen, werden als
utopisch
abqualifiziert. Und das klingt gefährlich noch Spinnern und
Traumtänzern. Dabei
sagt das gegenwärtige Elend des großen Wortes "Utopie"
nichts über
seine große Herkunft.
Thomas Morus
gab dem Genre 1516 mit dem
Buch Utopia den Namen, doch griff er
damit auf antike Vorbilder zurück: Plato schrieb in seinem Werk Politeia über das Wesen des idealen
Staates. Er sah im Privateigentum den Ursprung allen Streits und aller
Kriege.
Er dachte seinen Ansatz konsequent zu Ende und schaffte den
Privatbesitz ab.
Damit entwickelte er eine im wahrsten Sinne des Wortes kommunistische
Gesellschaft. Vielleicht als Ausgestaltung dieser theoretischen
Überlegungen
erscheint in den Dialogen Kritias und
Timaios die Beschreibung der Insel
Atlantis. Weit draußen im Meer gelegen, ist sie von der Natur
geradezu
paradiesisch begünstigt. Die Insel wird von weisen und gerechten
Königen
regiert, der Privatbesitz ist abgeschafft und die freie Liebe
eingeführt. Mögen
auch manche Details für uns heute totalitäre Züge
aufweisen, so stellen seine
Entwürfe doch eine durchdachte Alternative zur damaligen
Gesellschaft dar. Da
Atlantis von Gott Poseidon persönlich gegründet worden sein
soll, sieht sich
Plato der Notwendigkeit enthoben, einen Weg aufzuzeigen, wie dieser
Idealzustand zu erreichen ist.
Morus nun
versetzt seine Insel der Träume
in seine Gegenwart. Utopia, was ein
griechisches Wortspiel mit der Bedeutung Nicht-Ort, Nirgendwo ist,
liegt
irgendwo im Südpazifik, in der Neuen Welt also, in der man damals
alles für
möglich hielt. Er beschreibt einen Staat, in dem alle Fehler und
Mißstände des
damaligen Europa abgeschafft sind: Goldgier, Prunksucht, Neid,
Privateigentum
fehlen und haben dadurch den Weg für einen wiederum wahrhaft
kommunistischen
Staat freigemacht. Alle Bewohner tragen dieselbe Kleidung, wohnen in
den selben
Häusern, essen und arbeiten gemeinsam. Der überzeugte
Katholik Morus, der für
seinen Glauben zum Märtyrer werden sollte, hielt im Gegensatz zu
Plato an der
Einehe fest.
Die Verlegung
in die Gegenwart hat für
Morus den Vorteil, die Möglichkeit seiner Ideen zu betonen. Wer es
nicht
glaubt, soll halt selbst hinfahren, scheint er zu sagen. Über Wege
zu diesem
Glückszustand hingegen sagt Morus nur wenig - außer,
daß die Herrscher weise
und gerecht werden mögen, was uns als eine etwas unpraktische
Vorbedingung
erscheint. Er präsentiert als Gegenstand seiner Überlegungen
das also bereits
erreichte Ziel, einen stabilen, in sich ruhenden Endzustand.
Die negativen
Utopien des 20. Jahrhunderts
erscheinen uns als Vexierbilder der gleichen Zukunftsauffassung. War es
bei
Morus ein Seefahrer, der die Insel besucht hatte und begeistert vom
totalen
Zukunftsstaat erzählte, so wird in Orwells 1984
der totale Zukunftsstaat aus der Perspektive des Untertanen gesehen.
Der
Sachbearbeiter Winston Smith will sich nicht länger in das
uniforme,
allumfassende System einordnen lassen. Dies gilt auch für die
"Helden" in Aldous Huxleys Brave
New World. Auch sie erleben das System als Opfer. In beiden
Utopierichtungen wird der totalitäre Staat als unvermeidbar
angesehen - ob er
wünschenswert ist oder nicht, hängt allein von der
Perspektive ab - von innen
oder von außen.
Allen
Entwürfen gemeinsam ist das Fehlen
persönlicher Freiheit. Freiheit und Glück scheinen sich
auszuschließen. Da in
der Utopie von Staats wegen alles Böse abgeschafft ist, hat die
"Entscheidung" der Menschen, das Gute zu tun, ihren ethischen Wert
verloren. Es ist keine Entscheidung mehr - sie können ja gar nicht
anders. Und
wenn sie doch anders handeln, setzen sie sich dem Repressionsapparat
des
Systems aus. Das Anderssein der Protagonisten ist es, das sie so
gefährlich
macht. Sie wollen anders sein und führen dafür einen
hoffnungslosen Kampf um
Freiheit und Glück. Die Absolutheit, mit der der Staat zum einzig
legitimen
Endzustand allen Seins erklärt wird, zwingt ihn, jede noch so
kleine Abweichung
bekämpfen. Denn da er sich selbst als höchsten
Glückszustand definiert, ist
jede Abweichung zwangsläufig negativ. Diese Kombination
schließlich aus
weltentrücktem Idealzustand und bedrückendem Totalitarismus
ist es, die den
modernen Utopiebegriff prägt. Die Utopie und mit ihr Gut und
Böse relativieren
sich zu einer vagen Zukunftsangst.
Pläneschmieden
ist auch und gerade deshalb
aus der Mode gekommen, weil der letzte Versuch, ein theoretisches
Glücksversprechen in ein real existierendes zu verwandeln, vor
nicht allzu
langer Zeit gescheitert ist. Denn der marxistisch-leninistischen Utopie
haftete
jener Grundfehler an, den auch die literarischen Utopien aufweisen:
Nachdem
einmal der letzte, höchste Glückszustand ausgerufen worden
war, durften
Abweichungen nicht geduldet werden, da dies nur noch Verschlechterung
bringen
konnte. Somit war das Motiv des gesellschaftlichen Fortschritts
ausgeblendet.
Auch kreative Verbesserungen oder Anpassungen an neue Umstände
konnte es nicht
mehr geben.
Doch hat
nicht gerade der Untergang des
Kommunismus gezeigt, daß die westliche Demokratie die beste aller
möglichen
Lebensformen ist? Leben wir nicht auch in einem höchsten, letzten
Glückszustand? Hat nicht der amerikanische Philosoph Fukuyama vor
nicht allzu
langer Zeit das Ende der Geschichte verkündet, da mit der
liberalen Demokratie
das Endziel menschlicher Entwicklung erreicht sei? Geht es jetzt nicht
nur noch
darum, unser Paradies wohnlich einzurichten? Wir haben den Endzustand
erreicht,
Veränderung ist nur noch negativ. So oder ähnlich glaubt man
es zu hören. Doch
sind wir hier nicht gerade dabei, eine klassische Utopie aufzubauen?
Der
bereits öfter gemachte Versuch, die Überlegenheit einer
Gesellschaftsform ein
für alle Mal festzulegen, hat dabei unweigerlich zu Verfolgungen
von Ketzern
geführt. Diese aber waren es, die mit anderen Lebensentwürfen
zumindest die
Möglichkeit des Andersseins, der Entwicklung repräsentierten.
"Ketzer sind
die einzige (bittere) Medizin gegen die Entropie des menschlichen
Denkens", wie Evgenij Zamjatin schrieb. Menschen, die nicht bereit
waren,
sich der Mehrheitsmeinung - eben der öden nivellierenden Entropie
verordneter
Meinungen - bedingungslos zu unterwerfen, laufen immer Gefahr, so zu
enden wie
Winston Smith in 1984.
Unsere
träge und satte Zeit zeigt bereits
eine gefährliche Neigung zur Reformfeindlichkeit. Dieser Mangel an
Initiative
wird aber mit Worten wie "Pragmatismus" oder "Realpolitik"
verschleiert. Nur noch das Machbare zu bedenken bedeutet, sich den
freien Blick
selbst zu verbauen. Den Blick - zumindest den gedanklichen - über
den Horizont
brauchen wir aber, um letztlich die Freiheit der Entscheidung zu
wahren. Am
Machbaren allein orientierte Entscheidungen nehmen die Chance, das
Gegebene
grundlegend in Frage zu stellen. Und erst wenn wir das tun, können
wir Lösungen
für die Aufgaben des 21. Jahrhunderts finden.
Auch
persönliche Freiheit findet dort
keinen Platz, wo Sachzwänge regieren. Denn "Sachzwänge" sind
ein
beliebtes Argument, um sich in einer beschränkten Bequemlichkeit
einzunisten
und die Ausgänge zu verbauen. "Sachzwänge" sind oft nur der
Vorwand,
den Mangel an Weitblick und Phantasie zu verdecken. Wir sollten die
Zeichen an
der Wand lesen, bevor wir den greisen Männern im Kreml folgen.
Aber
visionäre Ideen interessieren
niemanden mehr - sie sind eben utopisch. Doch Utopia, sei es nun gut
und schön
wie bei Plato und Morus oder dunkel und grausam wie bei Orwell und
Huxley, war
immer auch ein Instrument der Zeitkritik. Die positiven Utopien waren
immer ein
Kontrastbild, an dem man sich Anregungen holen konnte. Doch positive
Utopien
entwickelt nach diesem Jahrhundert der Schrecken niemand mehr. Niemand
würde
mehr Visionen, die ein Paradies versprechen, Beachtung schenken. Der
Glaube an
die Fähigkeit des Menschen, letzten Endes eine friedliche und
gerechte
Gesellschaftordnung zu errichten, hat ernsthaft Schaden genommen. Wir
sind
Skeptiker geworden. Negative Utopien hingegen, die warnende
Aufforderung zur
Änderung des Verhaltens, stehen heute jeden Tag in der
Tageszeitung. Auch sie,
endlos wiederholt, werden nicht mehr beachtet.
Wo also ist
die Utopie geblieben? Wo ist
die Kraft geblieben, alles Bestehende zu hinterfragen? "I have a dream
that one day..." Diese Worte Martin Luther Kings sind gerade deshalb so
bekannt, weil solche Worte viel zu selten zu hören sind. Die
utopische Idee hat
sich verschlissen im jahrhundertelangen Versuch, das letzte Glück
zu
beschreiben. Das Wort "utopisch" ist zum Synonym geworden für
weltfremd, phantastisch, verrückt und hat mit der phantasiereichen
Zeitkritik,
die Utopien einmal waren, nur noch wenig gemein. Doch diese Einstellung
zur
Utopie fußt gerade in der Annahme eines idealen
Glückszustandes am Ende der
Geschichte.
Der Mensch
ist aber nicht vollkommen. Das
hat die leidvolle Erfahrung gerade dieses Jahrhunderts zur Genüge
gezeigt. Der
Mensch taugt nicht als glorreicher Schöpfer des allumfassend
Guten. Der Mensch
kann nur versuchen, nur probieren. Nur wenn wir diese
Beschränkungen menschlichen
Handelns akzeptieren, können wir wieder utopisch sein.
Phantasievolle
Zeitkritik zur Veränderung bestehender Mißstände - das
ist Utopia, nicht der
erdrückende Pessimismus oder die eintönige Güte
klassischer Utopien.
"Nicht warten auf Übermorgen, sondern streiten für Morgen"
heißt dann
die Devise. Utopia ist Anfangen. Utopia wird dann vom Nirgendwo zum
Noch-nicht.
In einem solchen, notwendigerweise offenen und kreativen Diskurs
über das
Morgen findet dann auch endlich wieder die lang verfemte Freiheit ihren
Platz.
Die Freiheit des Einzelnen bekommt dort ihre wahre Bedeutung, wo sie
gebraucht
wird, als gelebte Utopie das Morgen zu verändern.
Tradition
ist, daß die Zeiten sich ändern.
Das haben sie schon immer getan. Im Vorwärts- und
Veränderungsdrang der
Geschichte eine Bunkermentalität an den Tag zu legen, sich
einzuigeln, immer
nur das Machbare tun, nie einen kühnen Gedanken hegen, hat fatale
Folgen. Uns
selbst zum Endzustand, als nicht mehr der Veränderung unterworfen,
zu erklären,
nimmt uns die Freiheit, uns zu verändern und zu verbessern. Die
Geschichte wird
uns auch und gerade daran messen, was wir versucht haben, nicht allein
daran,
was wir vollbracht haben. Unsere Utopien müssen deshalb heute
beginnen, nicht
irgendwann in der Zukunft. Utopia liegt dann auch nicht mehr auf einer
fernen
Insel, sondern auf dem Weg nach Morgen. Der Weg ist - wieder einmal -
das Ziel.
Wenn wir Veränderungen wollen, können wir sie steuern und
beeinflussen. Sie
werden aber sowieso kommen - ob wir wollen oder nicht.
© Alexander
Pawlak und Matthias Bode & non
volio 2004