Marginalia Futurologica 10 (2004)
Jenseits des Pragmatismus
- Für einen neuen Utopiebegriff -

Das Pläneschmieden ist aus der Mode gekommen. Pläne und Gedanken mit visionärer Kraft sind selten geworden. Gehandelt wird heute - wie es scheint - nur noch bis zum nächsten Tag oder bis zur nächsten Wahl.  Die Zementierung des erreichten Status quo scheint Hauptmaxime allen Handelns geworden zu sein. "Veränderung ist negativ!" scheinen sie uns zuzurufen, jene, die gerade versuchen, mit politischen Rezepten aus dem 19. die Aufgaben des 21. Jahrhunderts anzugehen. Ideen, die den kreativen Schwung mitbringen, das Hier und Heute in Frage zu stellen, werden als utopisch abqualifiziert. Und das klingt gefährlich noch Spinnern und Traumtänzern. Dabei sagt das gegenwärtige Elend des großen Wortes "Utopie" nichts über seine große Herkunft.

Thomas Morus gab dem Genre 1516 mit dem Buch Utopia den Namen, doch griff er damit auf antike Vorbilder zurück: Plato schrieb in seinem Werk Politeia über das Wesen des idealen Staates. Er sah im Privateigentum den Ursprung allen Streits und aller Kriege. Er dachte seinen Ansatz konsequent zu Ende und schaffte den Privatbesitz ab. Damit entwickelte er eine im wahrsten Sinne des Wortes kommunistische Gesellschaft. Vielleicht als Ausgestaltung dieser theoretischen Überlegungen erscheint in den Dialogen Kritias und Timaios die Beschreibung der Insel Atlantis. Weit draußen im Meer gelegen, ist sie von der Natur geradezu paradiesisch begünstigt. Die Insel wird von weisen und gerechten Königen regiert, der Privatbesitz ist abgeschafft und die freie Liebe eingeführt. Mögen auch manche Details für uns heute totalitäre Züge aufweisen, so stellen seine Entwürfe doch eine durchdachte Alternative zur damaligen Gesellschaft dar. Da Atlantis von Gott Poseidon persönlich gegründet worden sein soll, sieht sich Plato der Notwendigkeit enthoben, einen Weg aufzuzeigen, wie dieser Idealzustand zu erreichen ist.

Morus nun versetzt seine Insel der Träume in seine Gegenwart. Utopia, was ein griechisches Wortspiel mit der Bedeutung Nicht-Ort, Nirgendwo ist, liegt irgendwo im Südpazifik, in der Neuen Welt also, in der man damals alles für möglich hielt. Er beschreibt einen Staat, in dem alle Fehler und Mißstände des damaligen Europa abgeschafft sind: Goldgier, Prunksucht, Neid, Privateigentum fehlen und haben dadurch den Weg für einen wiederum wahrhaft kommunistischen Staat freigemacht. Alle Bewohner tragen dieselbe Kleidung, wohnen in den selben Häusern, essen und arbeiten gemeinsam. Der überzeugte Katholik Morus, der für seinen Glauben zum Märtyrer werden sollte, hielt im Gegensatz zu Plato an der Einehe fest.

Die Verlegung in die Gegenwart hat für Morus den Vorteil, die Möglichkeit seiner Ideen zu betonen. Wer es nicht glaubt, soll halt selbst hinfahren, scheint er zu sagen. Über Wege zu diesem Glückszustand hingegen sagt Morus nur wenig - außer, daß die Herrscher weise und gerecht werden mögen, was uns als eine etwas unpraktische Vorbedingung erscheint. Er präsentiert als Gegenstand seiner Überlegungen das also bereits erreichte Ziel, einen stabilen, in sich ruhenden Endzustand.

Die negativen Utopien des 20. Jahrhunderts erscheinen uns als Vexierbilder der gleichen Zukunftsauffassung. War es bei Morus ein Seefahrer, der die Insel besucht hatte und begeistert vom totalen Zukunftsstaat erzählte, so wird in Orwells 1984 der totale Zukunftsstaat aus der Perspektive des Untertanen gesehen. Der Sachbearbeiter Winston Smith will sich nicht länger in das uniforme, allumfassende System einordnen lassen. Dies gilt auch für die "Helden" in Aldous Huxleys Brave New World. Auch sie erleben das System als Opfer. In beiden Utopierichtungen wird der totalitäre Staat als unvermeidbar angesehen - ob er wünschenswert ist oder nicht, hängt allein von der Perspektive ab - von innen oder von außen.

Allen Entwürfen gemeinsam ist das Fehlen persönlicher Freiheit. Freiheit und Glück scheinen sich auszuschließen. Da in der Utopie von Staats wegen alles Böse abgeschafft ist, hat die "Entscheidung" der Menschen, das Gute zu tun, ihren ethischen Wert verloren. Es ist keine Entscheidung mehr - sie können ja gar nicht anders. Und wenn sie doch anders handeln, setzen sie sich dem Repressionsapparat des Systems aus. Das Anderssein der Protagonisten ist es, das sie so gefährlich macht. Sie wollen anders sein und führen dafür einen hoffnungslosen Kampf um Freiheit und Glück. Die Absolutheit, mit der der Staat zum einzig legitimen Endzustand allen Seins erklärt wird, zwingt ihn, jede noch so kleine Abweichung bekämpfen. Denn da er sich selbst als höchsten Glückszustand definiert, ist jede Abweichung zwangsläufig negativ. Diese Kombination schließlich aus weltentrücktem Idealzustand und bedrückendem Totalitarismus ist es, die den modernen Utopiebegriff prägt. Die Utopie und mit ihr Gut und Böse relativieren sich zu einer vagen Zukunftsangst.

Pläneschmieden ist auch und gerade deshalb aus der Mode gekommen, weil der letzte Versuch, ein theoretisches Glücksversprechen in ein real existierendes zu verwandeln, vor nicht allzu langer Zeit gescheitert ist. Denn der marxistisch-leninistischen Utopie haftete jener Grundfehler an, den auch die literarischen Utopien aufweisen: Nachdem einmal der letzte, höchste Glückszustand ausgerufen worden war, durften Abweichungen nicht geduldet werden, da dies nur noch Verschlechterung bringen konnte. Somit war das Motiv des gesellschaftlichen Fortschritts ausgeblendet. Auch kreative Verbesserungen oder Anpassungen an neue Umstände konnte es nicht mehr geben.

Doch hat nicht gerade der Untergang des Kommunismus gezeigt, daß die westliche Demokratie die beste aller möglichen Lebensformen ist? Leben wir nicht auch in einem höchsten, letzten Glückszustand? Hat nicht der amerikanische Philosoph Fukuyama vor nicht allzu langer Zeit das Ende der Geschichte verkündet, da mit der liberalen Demokratie das Endziel menschlicher Entwicklung erreicht sei? Geht es jetzt nicht nur noch darum, unser Paradies wohnlich einzurichten? Wir haben den Endzustand erreicht, Veränderung ist nur noch negativ. So oder ähnlich glaubt man es zu hören. Doch sind wir hier nicht gerade dabei, eine klassische Utopie aufzubauen? Der bereits öfter gemachte Versuch, die Überlegenheit einer Gesellschaftsform ein für alle Mal festzulegen, hat dabei unweigerlich zu Verfolgungen von Ketzern geführt. Diese aber waren es, die mit anderen Lebensentwürfen zumindest die Möglichkeit des Andersseins, der Entwicklung repräsentierten. "Ketzer sind die einzige (bittere) Medizin gegen die Entropie des menschlichen Denkens", wie Evgenij Zamjatin schrieb. Menschen, die nicht bereit waren, sich der Mehrheitsmeinung - eben der öden nivellierenden Entropie verordneter Meinungen - bedingungslos zu unterwerfen, laufen immer Gefahr, so zu enden wie Winston Smith in 1984.

Unsere träge und satte Zeit zeigt bereits eine gefährliche Neigung zur Reformfeindlichkeit. Dieser Mangel an Initiative wird aber mit Worten wie "Pragmatismus" oder "Realpolitik" verschleiert. Nur noch das Machbare zu bedenken bedeutet, sich den freien Blick selbst zu verbauen. Den Blick - zumindest den gedanklichen - über den Horizont brauchen wir aber, um letztlich die Freiheit der Entscheidung zu wahren. Am Machbaren allein orientierte Entscheidungen nehmen die Chance, das Gegebene grundlegend in Frage zu stellen. Und erst wenn wir das tun, können wir Lösungen für die Aufgaben des 21. Jahrhunderts finden.

Auch persönliche Freiheit findet dort keinen Platz, wo Sachzwänge regieren. Denn "Sachzwänge" sind ein beliebtes Argument, um sich in einer beschränkten Bequemlichkeit einzunisten und die Ausgänge zu verbauen. "Sachzwänge" sind oft nur der Vorwand, den Mangel an Weitblick und Phantasie zu verdecken. Wir sollten die Zeichen an der Wand lesen, bevor wir den greisen Männern im Kreml folgen.

Aber visionäre Ideen interessieren niemanden mehr - sie sind eben utopisch. Doch Utopia, sei es nun gut und schön wie bei Plato und Morus oder dunkel und grausam wie bei Orwell und Huxley, war immer auch ein Instrument der Zeitkritik. Die positiven Utopien waren immer ein Kontrastbild, an dem man sich Anregungen holen konnte. Doch positive Utopien entwickelt nach diesem Jahrhundert der Schrecken niemand mehr. Niemand würde mehr Visionen, die ein Paradies versprechen, Beachtung schenken. Der Glaube an die Fähigkeit des Menschen, letzten Endes eine friedliche und gerechte Gesellschaftordnung zu errichten, hat ernsthaft Schaden genommen. Wir sind Skeptiker geworden. Negative Utopien hingegen, die warnende Aufforderung zur Änderung des Verhaltens, stehen heute jeden Tag in der Tageszeitung. Auch sie, endlos wiederholt, werden nicht mehr beachtet.

Wo also ist die Utopie geblieben? Wo ist die Kraft geblieben, alles Bestehende zu hinterfragen? "I have a dream that one day..." Diese Worte Martin Luther Kings sind gerade deshalb so bekannt, weil solche Worte viel zu selten zu hören sind. Die utopische Idee hat sich verschlissen im jahrhundertelangen Versuch, das letzte Glück zu beschreiben. Das Wort "utopisch" ist zum Synonym geworden für weltfremd, phantastisch, verrückt und hat mit der phantasiereichen Zeitkritik, die Utopien einmal waren, nur noch wenig gemein. Doch diese Einstellung zur Utopie fußt gerade in der Annahme eines idealen Glückszustandes am Ende der Geschichte.

Der Mensch ist aber nicht vollkommen. Das hat die leidvolle Erfahrung gerade dieses Jahrhunderts zur Genüge gezeigt. Der Mensch taugt nicht als glorreicher Schöpfer des allumfassend Guten. Der Mensch kann nur versuchen, nur probieren. Nur wenn wir diese Beschränkungen menschlichen Handelns akzeptieren, können wir wieder utopisch sein. Phantasievolle Zeitkritik zur Veränderung bestehender Mißstände - das ist Utopia, nicht der erdrückende Pessimismus oder die eintönige Güte klassischer Utopien. "Nicht warten auf Übermorgen, sondern streiten für Morgen" heißt dann die Devise. Utopia ist Anfangen. Utopia wird dann vom Nirgendwo zum Noch-nicht. In einem solchen, notwendigerweise offenen und kreativen Diskurs über das Morgen findet dann auch endlich wieder die lang verfemte Freiheit ihren Platz. Die Freiheit des Einzelnen bekommt dort ihre wahre Bedeutung, wo sie gebraucht wird, als gelebte Utopie das Morgen zu verändern.

Tradition ist, daß die Zeiten sich ändern. Das haben sie schon immer getan. Im Vorwärts- und Veränderungsdrang der Geschichte eine Bunkermentalität an den Tag zu legen, sich einzuigeln, immer nur das Machbare tun, nie einen kühnen Gedanken hegen, hat fatale Folgen. Uns selbst zum Endzustand, als nicht mehr der Veränderung unterworfen, zu erklären, nimmt uns die Freiheit, uns zu verändern und zu verbessern. Die Geschichte wird uns auch und gerade daran messen, was wir versucht haben, nicht allein daran, was wir vollbracht haben. Unsere Utopien müssen deshalb heute beginnen, nicht irgendwann in der Zukunft. Utopia liegt dann auch nicht mehr auf einer fernen Insel, sondern auf dem Weg nach Morgen. Der Weg ist - wieder einmal - das Ziel. Wenn wir Veränderungen wollen, können wir sie steuern und beeinflussen. Sie werden aber sowieso kommen - ob wir wollen oder nicht.


©
Alexander Pawlak und Matthias Bode & non volio 2004


Editorische Notiz: Das Spannende an diesem Text für uns als Herausgeber ist, dass er in einer ersten Fassung aus dem Jahre 1994 stammt, in seiner hier wiedergegeben letzten Fassung  aus dem März 1996. Aber er ist nach wie vor erschreckend aktuell.