Wo liegt Atlantis? Im
Atlantischen Ozean? In der Ägäis? Vor Marokko? In Cornwall?
Um Helgoland?
Berichtet die Flut- und Untergangssage um die große
Insel im Westen im Kern von
der selben Katastrophe, von der das Buch Genesis mit der Sintflut und
auch das Gilgamesch-Epos berichten? Hat
es mit Robert Ballards These
von der Flutung des Schwarzen Meeres zu tun? Liegt es in der Karibik?
Oder ist Atlantis gar nicht untergegangen? Wollten etwa einige
mediterrane
Seefahrer bloß nicht, dass man ihnen nachfährt? Haben sie
deshalb erzählt,
die sagenhaft reiche Insel sei schon wieder untergegangen? Ist Atlantis
also die Kunde von Amerika, vom Reich der Maya? Oder hat vor ein paar
tausend Jahren ein auseinandergebrochener Komet die Erde an
verschiedenen Stellen getroffen und dabei Atlantis vernichtet? All dies
könnte sein, aber nichts davon ist wahrscheinlich, und sicher ist
erst recht nichts. Begraben unter den Fluten des Westlichen Meeres,
versenkt vom Zorn der Götter? So weiß es der griechische
Philosoph Plato zu berichten in seinen Werken Timaios und Kritias.
Denn der ist der einzige, der tatsächlich von dieser Insel
erzählt. Nun, nicht ganz: Denn Jules Verne läßt die
Helden seines Buches "20.000 Meilen unter dem Meer" tatsächlich
Atlantis besuchen. Die entsprechende Passage aus dem 9. Kapitel gibt es hier.
Ralph Waldo Emerson
(1803-1882) gesteht Plato zu, er verfüge nicht
nur, wie die meisten Philosophen, über Verstand und Vernunft,
sondern eben auch über die Fähigkeit, eine Brücke zu
bauen zwischen dem Alltag der Menschen und seinem Atlantis. Plato, so
Emerson, vergesse nie die Böschung, die es brauche, um seine
gedanklichen Höhen aus der Ebene auch zu erreichen.[1] Auch
Christoph Martin Wieland (1733-1813) hatte sich eher positiv über
Plato ausgelassen, aber mit einer deutlichen anderen Tendenz: Plato
„hat sich seltsame Dinge in den Kopf gesetzt, man könnte sichs
nicht schnakischer träumen lassen, aber eben das belustiget mich;
und bei alle dem muß man ihm den Vorzug lassen, daß er gut
spricht; es hört sich ihm recht angenehm zu, wenn er euch von der
Insel Atlantis, und von den Sachen in der andern Welt eben so
umständlich und zuversichtlich spricht, als ob er mit dem
nächsten Marktschiffe aus dem Mond angekommen wäre“[2] Noch
wieder anders schreibt Washington Irving über Plato, den
„gekühlten Weisen“, der die platonische Liebe erfunden habe, eine
Art von geschlechtlicher Beziehung, die wahrscheinlich viel besser den
Bewohnern von Atlantis angemessen sei als uns mit fleischlicher Lust
belasteten Menschen dieser Welt.[3]
Im ersten erzählt er, wie
ägyptische Priester dem athenischen Gesetzgeber Solon von der
sagenhaften Insel Atlantis berichteten, größer als Asien und
Libyen zusammen, weit draußen vor den Säulen des Herkules,
also jenseits von Gibraltar. Rund 9000
Jahre vor Solon (630 - 560 v.u.Z) sei Atlantis eine reiche und
mächtige Insel gewesen, bis sie schließlich von den
Ur-Athenern besiegt worden
sei. Danach habe es nicht mehr lange bis zum Untergang, verursacht
durch
moralische Verwerflichkeit, gedauert. Im Kritias erzählt
Plato
die Geschichte dieses Landes Atlantis als die eines idealen Staates.
Auf
dieser „Insel der Seeligen“ ist beinahe alles beinahe perfekt
organisiert:
Es gibt kein Privateigentum mehr, Kinder werden in öffentlichen
Kindergärten
erzogen, und gerechte und weise Könige regieren über ein
Paradies mit freier
Liebe und Gütergemeinschaft. Das Leben wird in Form eines
totalitären Kommunismus organisiert, ein Motiv, das sich in vielen
Utopien wiederfindet. Kein Wunder übrigens, dass der griechische
Satiriker Lukian in seiner
„Wahren Geschichte“ alle toten Philosophen auf der Insel der Seeligen
versammelt, außer Plato, den die anderen nicht ertragen konnten
und der
deshalb zu einem Leben nach seinen eigenen Regeln auf einer Insel nur
für sich allein gezwungen wird. Am Ende wird Atlantis vernichtet
durch
die Götter, es geht unter in einer gewaltigen Flut, zerstört
in einer Nacht. es bleibt nichts als Massen von Schlamm zurück
Diesen Schlamm nutzen nun die einen, um es mit dem Wattenmeer in der Deutschen Bucht in Verbindung zu bringen, der oreichalkos, der die Mauern überzog sei nach denen Bernstein gewesen, nach anderen sei es Kupfer und damit sei Atlantis der Mont Saint Michel und das Watt drum herum. Dumm allerdings, dass Plato von Elefanten schreibt, die es dort gegeben haben soll. Also nicht Nordeuropa. Und auch nicht Amerika. Oder sollen wir das Detail, das uns nicht passt, als Märchenzutat rauswerfen? Elefanten hat es am Mittelmeer gegeben, aber dann kann es nicht jenseits der „Säulen des Herkules“ gewesen sein. Der Trick besteht dann darin, diesen Teil mit dem Hinweis hinwegzudiskutieren, es sei bloß „ganz weit westlich“ gemeint, von Ägypten aus. Also könne es Malta sein. Oder Atlantis war gar das nach der Eiszeit (hier könnten Solons 10000 Jahre passen!) sturzflutartig voll laufende Mittelmeer, das während der Eiszeit vielleicht (oder auch nicht?) eine trocken gefallene Steppenlandschaft gewesen sein könnte. Oder das sturzflutartig vollgelaufene Schwarze Meer, in dem Robert Ballard schon die Sintflut verorten möchte. Das wäre dann allerdings auch nicht "westlich". Es mag auch sein, dass Erinnerungen an den Untergang der minoischen Kultur nach der Explosion des Vulkans Thera 1500 v.u.Z. und die folgenden Flutwellen sein mögen, die den Bericht Platos – oder Solons? – oder der Ägypter? beeinflussten. Dafür müssen wir dann eben die Platos Jahreszahl dran geben, und eine andere annehmen. Aber was macht das schon? Beim Atlantisbericht sucht sich sowieso jeder, was ihm passt.
Was auch immer über Plato
noch
zu sagen wäre, Atlantis bleibt eine Gegenwelt. Wahrscheinlich ist
Atlantis
bloß eine Legende, eine Fabel, wie etwa Swifts Lilliput,
Morus’
Utopia oder Campanellas Sonnenstaat. Zahlreiche
Versuche,
wirkliche Orte als Atlantis zu identifizieren, haben zwar viele
interessante
Ergebnisse gebracht, doch blieben sie letztlich erfolglos. Friedrich
Schiller drückte eine Meinung seiner Zeit aus: „Auf die
Unfehlbarkeit seines Kalküls geht der Weltentdecker Kolumbus die
bedenkliche Wette
mit einem unbefahrenen Meere ein, die fehlende zwote Hälfte zu der
bekannten Hemisphäre, die große Insel Atlantis zu suchen,
welche die Lücke auf seiner geographischen Karte ausfüllen
sollte. Er fand sie, diese Insel seines
Papiers, und seine Rechnung war richtig.“[4] Nein, wollen wir ihm heute zurufen,
seine Rechung war nicht richtig, sie war sogar grundfalsch. Ohne das
zufällig im Weg liegende Amerika wäre Kolumbus
jämmerlich ersoffen
bei seinem Versuch, Japan zu erreichen! Und Schiller sollte das auch
wissen. August von Platen folgte ihm: In einem Gedicht aus dem Jahre
1818 allegorisiert er Amerika. Dabei lässt er Kolumbus dies
erzählen: „Ich zuerst durchschnitt die Wasserwüste, /
Über der du deine Zähren weinst, / Der Atlantis
frühverlorne Küste, / Dieser Fuß betrat zuerst sie
einst.“[5]
Diese gewagte These über die Lage der Atlantis, ein Femininum bei
Platen, lehnte der bereits erwähnte Amerikaner Washington Irving
in seiner „History of New York“ ab, genauso wenig wie es das
Zipangu Marco Polos gewesen sei.[6]
Atlantis ist verloren.
Untergegangen in den Fluten als Strafe der Götter. Es ist die
Ferne, die Nicht-Verortbarkeit, die Atlantis als einen ou topos,
einen Nicht-Ort erscheinen lässt – als archetypische Utopie. Doch
diese Unwirklichkeit hat Literaten
aller Länder und Zeiten nicht davon abgehalten, sich auf Atlantis
zu
beziehen.
Faszinierend erscheint besonders der Untergang. Ludwig Rubiner geht in seinem Nachwort zu »Die Gemeinschaft« „auf den Mythos zurück: die Sintflut; und Atlantis, die inmitten wilden, dummen Lebens versank - Mythos der Weltkrise, darnach [begann, so Rubiner], durch Chaos der Versuch [...], das Leben einfach, in Gemeinschaft neu zu bauen.“[7] Damit wendet er sich von der Deutung Platos als idealem Staat der Vorzeit ab und setzt den Untergang Atlantis’ mit der Sintflut gleich, die ja auch alles zerstörte und die Menschen zu einem Neuaufbau zwang. Sein Vergleich hinkt aber, da die Zerstörung von Atlantis – zumindest nach Plato – keine direkten Folgen für die anderen Menschen hatte.
Die Fluten regen die Phantasie an: Bertolt Brecht schrieb in seinen Fragen eines lesenden Arbeiters „Selbst in dem sagenhaften Atlantis / Brüllten in der Nacht, wo das Meer es verschlang / Die Ersaufenden nach ihren Sklaven.“ Die Botschaft ist klar, doch was ist mit Atlantis? Verglichen mit den Inseln der Seligen, den Hesperiden, den Orkneys und dem Ultima Thule der antiken griechischen Geographie erscheint Atlantis bei Henry W. Longfellow (1807-1882). Auf der langen Reise des Lebens beklagt er:
How far since then the ocean streams
Have swept us from that land of dreams,
That land of fiction and of truth,
The lost Atlantis of our youth![8]
Es ist dieser übertragene Sinn, der uns auch bei Tieck in einer Diskussion über die Wiederentdeckung der mittelalterlichen Baukunst begegnet: »Ja wohl«, sagte der Freund, »wir können den neuesten Bemühungen edler Deutschen nicht dankbar genug sein, die uns diesen lange mißverstandenen lieblichen Traum wieder auf die rechte Art zu deuten suchen. Dergleichen bereichert den Menschen wahrhaft, und so kann auch manche versunken geglaubte Atlantis unsers Gemüts wiederentdeckt werden«[9] Völlig übertragen im Sinne auch bei G. A. Seume: „Eine solche Schande ließen deutsche Gelehrte nimmermehr über ihr Athenäum kommen; eher faselten sie eine ganze Atlantis von Aberwitz ab.“[10] Dieser übertragenen Bedeutung bedient sich auch Wieland, wenn er einen Mann mit den Worten lobt: „Die berühmte Insel Atlantis war ihm so bekannt, als ob er alle ihre herrlichen Paläste, Tempel, Marktplätze, Gymnasien, Amphitheater u.s.w. mit eignen Augen gesehen hätte“[11] Wer weiß, was er tatsächlich wusste.
Atlantis ist die untergegangene ehemalige, besondere, andere Welt. Als
eine der rätselhaftesten Geschichten der Antike bleibt sie stehen
und durchzieht unsere Literatur und Phantastik. Atlantis, das geflutete
Rätsel. Und so endet denn alle Suche nach Atlantis bei Arno Holz:
Längst
versoffne Seemannsprime
Wälzt
es gleichfalls tief im Bauch rum,
Und
die Traumwelt der Atlantis
Harrt,
bedeckt von Gold und Seetang,
Ihrer
künftgen Auferstehung.[12]
© 2004 Matthias Bode @ non volio.de
[1] Emerson: Representative Men, S. 51. DigBib Bd.
59: Engl.Am.Lit., S. 61041 (vgl. Emerson-Works, S. 736)
[2] Wieland: Geschichte des Agathon, S. 586. DigBib Bd. 1: Deut.Lit., S. 173601 (vgl. Wieland-W Bd. 1, S. 718)
[3] Irving: A History of New York, S. 37. DigiBib
Bd. 59: Engl.Am.Lit, S. 82776 (vgl. Irving-History, S. 53-54)
[4] Schiller: Philosophische Briefe, S. 36. DigiBib Bd. 1: Deut.Lit., S. 148702 (vgl. Schiller-SW Bd. 5, S. 356)
[5] Platen: Gedichte Ausgabe 1834, S. 3. DigiBib Bd. 1: Deut.Lit., S. 136154 (vgl. Platen-W, S. 7-8)
[6] Irving: A History of New York, S. 58. DigiBib
Bd. 59: Engl.Am.Lit, S. 82797 (vgl. Irving-History, S. 65)
[7] Rubiner: Die Gemeinschaft, S. 3. DigiBib Bd. 1: Deut.Lit., S. 143638 (vgl. Rubiner-Dichter, S. 330)
[8] Longfellow: Ultima Thule, S. 2. DigiBib Bd. 59:
Engl.Am.Lit, S. 99024 (vgl. Longfellow-Poetical Works, S. 342)
[9] Tieck: Der junge Tischlermeister, S. 73. DigiBib Bd. 1: Deut.Lit., S. 164179 (vgl. Tieck-W Bd. 4, S. 245-246)
[10] Seume: Mein Sommer, S. 212. DigiBib Bd. 1: Deut.Lit., S. 151628 (vgl. Seume-P, S. 799)
[11] Wieland: Geschichte der Abderiten, S. 474. DigiBib Bd. 1: Deut.Lit., S. 175571 (vgl. Wieland-W Bd. 2, S. 404)
[12] Holz: Buch der Zeit, S. 272. DigiBib Bd. 1: Deut.Lit., S. 94452 (vgl. Holz-Zeit, S. 301)