Marginalia Futurologica 17 (2010)



Sklaven des Netzes

- eine Polemik, eine rückwärtsgewandte Polemik, die das Leben meines Vaters (*1933) mit meinem vergleicht.

Zu einem Topos der Gesellschaftsbeschreibung gehört es seit ehedem, jene, die viel haben und bestimmen von jenen zu scheiden, die wenig haben und über die bestimmt wird. Das sieht Voltaire so, das sieht Marx so, das sehen aber interessanterweise auch die Klassiker der utopischen Literatur so: Sei es Wells in The Time Machine, sei es Fritz Lang in seinem Film Metropolis, seien es Samyatin, Orwell und Huxley im großen dystopischen Dreigestirn WIR, 1984 und Brave New World: Immer gibt es eine gesellschaftliche Schicht jener, die das System steuern, die herrschen, die Macht ausüben. Auf der anderen Seite steht das große Heer jener, die nicht steuern können, sondern die gesteuert werden: Fabrikarbeiter, Sklaven, Deltas…

Nicht nur im berühmten Macintosh-Werbespot von 1983 stürmt ein einsamer Held nach vorne und zertrümmert das Symbol des Systems: Widerstand gegen das System bildet in diesen literarischen Werken den Kern der Handlung, letztlich den Kern der Botschaft. Gegen die Unterdrückung der Menschen durch den Mitmenschen stehen die Protagonisten auf und versuchen zu kämpfen. Allen diesen Utopien gemein ist die Annahme, dass man aufstehen und kämpfen kann.

Textfeld:  Sklaven des Stromnetzes – Italien bei Nacht im Herbst 2010 (Foto: NASA)Der Klapprechner, auf dem dieser Text entsteht, hat einen Akku, in dem noch Strom für zwei Stunden steckt. Danach arbeitet er nicht mehr. Danach muss ich mit diesem Gerät wieder ans Netz, in diesem Fall das Stromnetz.

Mein Telefon ist ein integriertes ISDN-Anrufbeantworter-Gerät mit Stromanschluss. Ohne Stromanschluss kann ich nicht telefonieren. Mein Mobiltelefon? Für das gelten auch Akkulaufzeitbeschränkungen…

Wenn es auch völlig offensichtlich ist, dass moderne Kommunikation vom Stromnetz abhängt, möge der geneigte Leser auch die Tatsache bedenken, dass auch mein Herd in der Küche und der Kühlschrank mit Strom betrieben werden. Daneben stehen Wasserkocher und Toaster. Bei einem Stromausfall kann ich kein Wasser erhitzen, kann nicht kochen, und nach wenigen Tagen werden meine Lebensmittelvorräte verderben.

Nun, ich könnte neue kaufen. Aber sowohl die Tiefkühltruhen meines Supermarktes als auch die Scannerkassen werden elektrisch betrieben.

Und was hat das mit meinem Vater zu tun? Als er jung war, war zugegebenermaßen der Zweite Weltkrieg. Aber bis weit in seine erwachsenen Jahre hinein konnte er sich mit Hilfe seines Gartens, seiner zwei Schweine und seiner Hühner im Stall ernähren. Er hat bis heute einen Holzofen in der Küche, der im Winter das Haus heizt und auf dem gekocht wird. Der Keller seines Hauses ist so groß und so kalt, dass mein Vater erstaunliche Mengen zum Teil selbsterzeugter Nahrung einlagert. Er kann bis heute zu einem gewissen Teil ohne elektrischen Strom überleben.

Ein Freund arbeitet in der Reaktion einer Zeitschrift. Die gesamte Recherche und die ganze Kommunikation laufen digital und online. Es ist bei dem heutigen Personalbestand seines Verlages völlig unmöglich, ohne ein funktionsfähiges Internet zu arbeiten. Manuskripte in Papierform zu überarbeiten, sie gar an die Autoren in Papierform zurückzuschicken ist heute völlig undenkbar.

Mein Betrieb hat die interne Kommunikation auf eMail-Gruppen umgestellt. Die Chefetage geht wie selbstverständlich davon aus, dass

-          Bei mir zu Hause Internet-Anschluss vorliegt

-          Bei mir der Computer, der Netz-Zugang und der Stromanschluss funktionieren

-          Ich mindestens zweimal am Tag die elektronische Post kontrolliere.

Der Chef meines Vaters hat ihn auf der Arbeit angesprochen oder ihm einen Zettel zugesteckt.

Neulich war Google einen halben Tag nicht zu erreichen. Es hat für Titelschlagzeilen gereicht. Noch im Jahr 2000 wäre es niemandem eingefallen, Zeitungsschlagzeilen darüber zu schreiben, dass eine Internet-Suchmaschine nicht funktioniert. Und heute? Mein Vater hat ein Lexikon zuhause und ein Telefonbuch.

Neulich war in der Zeitung wieder von einem hirnlosen Trottel zu lesen, der mit dem Auto in einem Neustadt angekommen war, in das er nicht wollte, weil er stumpf dem falsch programmierten Navigationssystem gefolgt war. Abgesehen davon, dass mein Vater Karten lesen kann und eine ungefähre Idee davon hat, wo sein Ziel ungefähr liegen sollte, ist dieser hirnlose Trottel in zweifacher Weise ein Depp: er ist zu dumm, ein Gerät so zu bedienen, dass es das tut, was er von ihm will – und dann folgt er diesem Gerät auch noch, ohne nachzudenken. Überdies sind alle Navigationssysteme abhängig vom Funktionieren des GPS des amerikanischen Militärs. Dieses GPS kann jedoch nach Belieben abgeschaltet werden.

Mal abgesehen von Spazierfahrten irgendwelcher Deppen: Wie viele ernsthafte, ja lebenswichtige Dinge sind abhängig vom Funktionieren des GPS?

Die Liste ließe sich fortsetzen. Das beklemmende daran ist für mich, dass die alltägliche Lebensführung großer Teile der westlichen Bevölkerung ohne Mobilfunk, GPS und Internet, vom Stromnetz ganz zu schweigen, nicht mehr möglich wäre.

Wir sind zu Sklaven der Netze geworden. Mobilfunk, Datennetz, Telefon, Strom bestimmen unser Leben in einer Weise, wie das vor 20 Jahren kaum für möglich gehalten wurde. In weiten Teilen der Welt fällt regelmäßig der Strom aus – doch ein ernsthafter, mglw. zwei- oder gar mehrtägiger Ausfall eines dieser Netze in Europa dürfte katastrophale Folgen haben. Fallen zwei oder mehr dieser Netze gleichzeitig aus, dann dürfte das Tote zur Folge haben.

Die modernen Gesellschaften auf diesem Planeten haben sich erneut zweigeteilt, doch anders, als Marx sich das vorgestellt hat. Auf der einen Seite stehen die netzunterstützten Konsumenten, auf der anderen stehen die Netzbetreiber, eine zahlenmäßig überschaubare Kaste von Spezialisten, die unser aller Leben ermöglichen. Die klassischen Dichotomien von Reich-Arm und Oben-Unten sind gewichen einer allgemeinen Versklavung der Menschen durch die Netze. Die zusammenwirkende Funktionieren der Netze erlaubt uns OECD-Bürgern das Überleben. Dafür geben wir eine beachtliche Freiheit auf – nämlich jene, nicht an ein Netz angeschlossen zu sein. Meine Umgebung würde es nicht akzeptieren, wenn ich meine eMail nicht mehr abrufen würde – oder gar mein Telefon abmeldete. Der allgemein medial unterstützte Konsumrausch verwandelt mich in einen Sklaven des Netzes, der seine Existenz darauf ausrichten muss, sich am Netz zu halten, weil er sonst verloren wäre.

In Zeiten der dotcom-Blase gab es den Spruch: Be nice to nerds, you could end up working for one. Heute müssen wir wohl sagen: Be nice to nerds, Du verdankst Ihnen dein Leben.

D’Escier 2010