dann steht eine durchaus reale Stadt nur mehr als Platzalter für „exotischer fremdartiger Ort“. Mit der Verwendung dieser Metapher steht Holz nicht allein; auch Scheerbart weiß sie zu nutzen, mit deutlich rassistischem Beigeschmack:
„Die zehn Volksredner aus Europa standen ganz nackt in dem Äquatorsonnenschein und gratulierten sich händeschüttelnd - dem hagersten von den zehn Volksrednern war allerdings die neue Kultur noch lange nicht nackt genug; und sie beschlossen, in Europa hundert Millionen Rasiermesser anfertigen zu lassen - alle Haare sollten rasiert werden - sogar die Augenbrauen und die Wimpern. [...] Durch den kolossalen Schall entstanden viele Gewitter mit Blitz und Donner. Die Rasiermesser kamen langsam näher - auf reichbeflaggten Regierungsdampfern. In Timbuktu sollte den schwarzen Leuten das kunstgerechte gegenseitige Einseifen beigebracht werden.“[3] Diese Gleichsetzung von Timbuktu mit Barbarei wird auch in folgendem Ausschnitt von Gutzkow deutlich, wenn er Timbuktu als einen der Orte nennt, die von Missionaren besucht werden.
„Wo
fände ein Jesuit nicht ein Feld seiner Thätigkeit! Schicken
Sie
ihn nach Ceylon, nach Tombuktu, er findet Menschen, Priester,
Religionen,
Staaten. Wo Andere lehren, Andere glauben, hat auch ein Jesuit zu thun.“[4]
Neben dieser Sentenz, die auch die Jesuiten kritisiert, steht Heinrich
Heines
Frage nach dem Aufenthaltsort des Verstorbenen:
„Wo ist er jetzt? Im Abendland oder im Morgenland? In China oder in England? In Hosen von Nanking oder von Manchester? In Vorderasien oder in Hinterpommern? Muß ich mein Buch nach Kyritz adressieren oder nach Tombuktu, poste restante? - Gleichviel, wo er auch sei, überall verfolgen ihn die heiter treuherzigsten und wehmütig tollsten Grüße seines ergebenen
Mit Heine, Gutzkow, Scheerbart und Holz schreiben Vertreter der deutschen Literatur über eine Region, die immer weit außerhalb des deutschen Interesses lag. So ist es nur natürlich, dass sich die deutschen Autoren eher dem Phänomen des Fernen zuwenden als dem tatsächlichen Ort.
Doch wie steht es in diesem Zusammenhang mit einer kolonial-imperialen Literaturtradition wie der englischen? Der unvermeidliche Byron, durch den Hellespont geschwommen, Verehrer des griechischen Befreiungskampfes, auch er lässt Bemerkungen zu unserem afrikanischen Mythen-Ort fallen, wobei er sich selbst innerhalb eines Werkes der Orthographie nicht sicher zu sein scheint:
Though travelled, I have never
had the luck to Trace up those
shuffling negroes, Nile or Niger,
Where Geography finds no one to oblige her With such a chart as may be safely stuck to - For Europe ploughs in Afric like »bos piger«; But if I had been at Timbuctoo, there No doubt I should be told that black is fair.[6] |
This is the patent age of new
inventions |
In Strophe 70 seines Verswerks „Don Juan“ stoßen wir wieder auf die geographische Lage der Stadt am Niger, doch eben auch hier lesen wir, dass eben die Geographie niemanden dort findet, ihr zu helfen. So bleibt die Stadt eben unbekannt. Ähnlich geographisch ist das Sprachbild, dass Byron in Strophe 132 verwendet, wenn er all die neuen Errungenschaften der neuen Zeit anführt: Neben Davys Grubenlampe und den Fahrten zu den Polen sind die Reisen nach Timbuktu als ähnlich nützlich für die Menschheit bezeichnet, wie sie in Waterloo niederzuschießen. Eine deutliche andere Richtung bietet jedoch Byrons Strophe 7, in der er London mit den Größen der Welt und der Weltgeschichte vergleicht:
To our theme: - The man who has stood
on the Acropolis,
And looked down over Attica; or he
Who has sailed where picturesque
Constantinople is,
Or seen Tombuctoo, or hath taken tea
In small-eyed China's crockery-ware
metropolis,
Or sat amidst the bricks of Nineveh,
May not think much of London's first
appearance -
But ask him what he thinks of it
a year hence?[8]
Es
ist diese mythische Stadt in der Ferne, die auch bei dem in Polen
geborenen Wahlbriten Joseph Conrad auftritt: „»I daresay he was
furious,
too,« Blunt continued dispassionately. »But he was
extremely
civil. He showed her all the
'treasures'
in the room, ivories, enamels, miniatures, all sorts of monstrosities
from Japan, from India, from Timbuctoo ... for all I know. ...”[9]
Wie
sollte so jemand in den Besitz von Schätzen aus Timbuktu kommen?
Was
gibt es dort eigentlich für Schätze? Und doch: Sie sind da.
Neben jenen aus Indien und Japan. Ferne Länder. Exotik.
Thackeray flicht die Stadt in Westafrika in mehreren Werken als Gipfel
weltferner Belanglosigkeit ein: “»That is the son of the old
reprobate Sir Pitt, who is very likely drinking at the public-house at
this very moment.« And once when he was speaking of the benighted
condition of the King of Timbuctoo, and the number of his wives who
were likewise in darkness, some gipsy miscreant from the crowd asked,
»How many is there at Queen's Crawley, Young Squaretoes?«
to the surprise of the platform and the ruin of Mr. Pitt's speech.”[10]Mr.
Pitts Rede mag ruiniert sein, aber hat er es nicht auch verdient, wenn
er über den König von Timbuktu spricht? Selbst schuld, der
gute
Pitt, wenn er solch ein Thema wählt.
Aber andere machen es nicht besser: „And then we talked of the new
ambassador from Timbuctoo, and how he was better than the old one; and
how Lady Mary Billington was going to marry a clergyman quite below her
in rank…”[11]Und
so weiter und so fort, ad nauseam. Timbuktu reißt keinen
mehr vom Stuhl, ist belanglos, überflüssig, fern. Ohne Belang
für die europäische Gegenwart, zumal es nicht ernsthaft einen
Botschafter aus Timbuktu jemals gegeben hätte. Es ist ein
Wortspiel geworden, mehr nicht.
Auch
D.H. Lawrence spielt mit der Stadt in genau diesem Sinne: „And about
everything I talked to her: but everything. We talked ourselves into Persepolis and Timbuctoo. We were
the
most literary-cultured couple in ten counties. I held forth with
rapture
to her, positively with rapture.”[12]Timbuktu
neben Persepolis gestellt, die alte persische Königsstadt. Ein
recht unpassendes Wortspiel. Mag man von Lady Chatterley und ihren
Liebhabern halten, was man will: Sie können sich in eine
Verzückung hineinreden, wenn sie über diese Städte
plaudern. Immerhin spricht man über Timbuktu – oder wohl eher
über Belanglosigkeiten, ganz fern liegend.
Und in eben diesem Sinne verwendet
Thackeray den Begriff ein drittes Mal: „You know no more of that race
which inhabits the basement floor than of the men and brethren of
Timbuctoo, to whom some among us send missionaries. If you met some of
your servants in the streets (I respectfully suppose for a moment that
the reader is a person of high fashion and
a great establishment), you would not know their faces.”[13]Die
Diener des Bürgertums stehen diesem genauso fern wie die
Afrikaner, die Menschen in Timbuktu? Das ist ein starkes Stück.
Aber er hat
recht. Afrika ist weit. Wie weit? Ähnlich weit wie die
Klassenunterschiede im England des 18. Jahrhunderts: „Von hier bis nach
Timbuktu...!“
Und die Amerikaner, beeinflusst von den Briten? Henry James war Amerikaner von Geburt, lebte und arbeitete aber Zeit seines Schriftstellerlebens in Europa. In seinem eher unbekannten Werk Roderick Hudson stellt James uns eine Frau vor, die über einen jungen Mann, der Christina den Hof macht, folgenden Wunsch ausspricht: ”I wish, then, you would take him away. You have plenty of money. Do me a favor. Take him to travel. Go to the East – go to Timbuctoo. Then, when Christina is Princess Casamassima," Mrs. Light added in a moment, "he may come back if he chooses.” Timbuktu liegt nicht im Osten, es liegt im Süden. Oder ist dies impliziert, als zweite Richtung, neben dem Osten? Falls ja, dann steht hier Timbuktu anstelle des Südens, als Metapher für den Süden. Der Weg nach Timbuktu also als Weg, den Jungen bis auf Weiteres loszuwerden, als temporäres Exil, beliebig austauschbar mit einem anderen fernen Ort – oder doch nicht?
An anderer Stelle, in James’ Ambassadors, wird dieser mythisch-ferne Ort erneut zum Nirgendwo: „But she threw off at last, with a sharp sad headshake, drying her eyes, what he could still do. »I don't care for that. Of course, as I've said, you're acting, in your wonderful way, for yourself; and what's for yourself is no more my business […] than if it were something in Timbuctoo.”[14]Timbuktu ist ganz klar – belanglos.
Noch
deutlich beeinflußt von den europäischen Vorbildern, aber
bereits auf der Suche nach der amerikanischen Form in der Literatur
fand
Edgar Allan Poe seinen Weg zwischen Gothic Novel und Science
Fiction. In seinem The Man that Was Used Up lesen wir von
der
schönen neuen Welt, wie sich dem Zeitalter der Industrialisierung
und der modernen Technik gegen Ende des 19. Jhdt. darbot:
»There is nothing at all like
it,« he
would say; »we are a wonderful people, and live in a wonderful
age. Parachutes and railroads - man-traps and spring-guns! Our
steam-boats are upon every sea, and the Nassau balloon packet is about
to run regular trips (fare either way only twenty pounds sterling)
between London and Timbuctoo. And who shall calculate the immense
influence upon social life - upon arts - upon commerce - upon
literature - which will be the immediate result of the great principles
of electro-magnetics![15]
Warum soll ein Ballon-Post-Service zwischen London und ausgerechnet
Timbuktu unterwegs sein? Warum nicht nach Dakar? Oder Bombay? Casablanca? Kairo? Suez? Delhi?
Singapur? Nein, der Weg nach Timbuktu hat seinen Zweck. Timbuktu ist
nämlich nicht der Ort, an dem die Post ankommt. Nein. Timbuktu ist
der Ort, an dem sich die Mythen der westlichen Welt
bündeln. Unter kleinen Kindern ist ab und an die Frage zu
hören,
wenn es denn einen Nord- und einen Südpol gebe, ob es denn dann
auch
einen West- und Ostpol gebe. Gibt es nicht, natürlich, aber
Timbuktu
ist ein Kandidat. Wie bestenfalls noch der Nord- und der Südpol,
der
Mount Everest oder Mekka und Jerusalem steht Timbuktu für ein
Konzept. Unzugänglichkeit, Exotik. Ferne.
Unter den Amerikanern macht es schließlich
R. W. Emerson ganz kurz: „These are Scriptures which the missionary
might well carry over prairie, desert, and ocean, to Siberia, Japan,
Timbuctoo.”[16]Beliebiger
könnte es kaum sein, diese Aneinanderreihung
ferner Orte – doch Walt Whitman übertrifft Emerson noch: In seinem
Gedicht
Salut au Monde! in seinem Gedichtwerk Leaves of Grass
schreibt
Whitman in Strophe 10:
I see vapors exhaling from
unexplored countries,
I see the savage types, the bow and
arrow, the poison'd splint, the fetich, and the obi.
I see African and Asiatic towns,
I see Algiers, Tripoli, Derne, Mogadore,
Timbuctoo, Monrovia,
I see the swarms of Pekin, Canton,
Benares, Delhi, Calcutta, Tokio,
I see the Kruman in his hut, and
the Dahoman and Ashantee-man in their huts,[17]
Timbuktu wird zwar als realer Ort gesehen, eingereiht in die Reihe anderer Städte, aber deren genaue Bestimmung, ihr Ort und ihre Geschichte treten zurück vor der Aufgabe der literarischen Verdeutlichung. Symbol vor Inhalt.
Und was wird mit dem
Symbol, wenn es mit Inhalt gefüllt wird? Im Alter von 20 Jahren,
als junger Student in Cambridge, hat Alfred Tennyson 1829 ein Gedicht
mit Namen „Timbuctoo“ geschrieben, in dem er genau jene ferne Romantik
des fernen Namens in den Mittelpunkt stellt.[18]
Er sieht sich auf dem Felsen von Gibraltar sitzend, über die
Wellen schauend. Er sinniert über Eldorado und das versunkene
Atlantis
im Westen. Doch dann:
…the time is well-nigh come
When I must render up this glorious home
To keen Discovery: soon yon brilliant towers
Shall darken with the waving of her wand;
Darken, and shrink and shiver into huts,
Black specks amid a waste of dreary sand,
Low-built, mud-wall'd, Barbarian
settlements.
How chang'd from this fair City!«
Es gab also einmal das mythische Timbuktu, das große, das schöne, die stolze Hauptstadt der Wüste. Sie ist verschwunden in dem Moment der Entdeckung. Im Moment der Beobachtung verschwindet der Mythos und wird ersetzt durch eine staubige Realität aus armseliger Schlammhütten inmitten einer Wüste aus traurigem Sand. Eine geographische Variante von Heisenbergs Unschärferelation und – noch passender – Schrödingers Katze. Auch sie bleibt, solange sie unbeobachtet ist, in einem vagen, mythischen Zustand. Der Moment der Beobachtung lässt die Wahrscheinlichkeitswelle zusammenbrechen und die traurige Realität einer toten radioaktiven Katze blickt uns an.
Aber ich schweife ab. Denn wir stehen am Ende unserer kleinen Sicht der Dinge: Timbuktu ist weit weg, Die Zeugnisse, die durch die letzten 200 Jahre zusammengetragen und hier zusammen präsentiert wurden, zeigen dies ganz klar. Sie ließen sich weiter fortsetzen, insbesondere in der Jugend- und Abenteuerliteratur, doch ich möchte hier schließen.
Lassen Sie mich
zusammenfassen: Timbuktu gehört für die Europäer zu
einem der mythischen Orte der Welt. Timbuktu trägt in sich eine
Symbolik, die kein anderer Ort Afrikas erreichen kann – Timbuktu steht
für Afrika. Dunkel lockende Welt, wie das Tania Blixen formuliert
hat. Und der Mythos Timbuktu hat seinen Anteil daran.
© Matthias Bode @ non volio, 2003