Vergänglichkeit
Vom Berge schaut hinaus ins tiefe Schweigen
Der mondbeseelten schönen Sommernacht
Die Burgruine; und in Tannenzweigen
Hinseufzt ein Lüftchen, das allein bewacht
Die trümmervolle Einsamkeit,
Den bangen Laut: 'Vergänglichkeit'
Nikolaus Lenau (1802-1850)
Ein Burgruine lädt ein zu romantischem Sinnen. Wer lebte einst
hier? Was taten die Menschen hier? Wie kamen sie dazu ausgerechnet hier
auf diesem Berg eine Burg zu errichten? Und wie lange haben die Maurer daran
gearbeitet? Und sie wirft uns, wie das die erste Strophe des Gedichts "Vergänglichkeit"
von Nikolaus Lenau so treffend beschreibt, auf die Vergänglichkeit
der Dinge zurück. Kaum etwas verdeutlicht besser das Gefühl, dass
etwas gewesen ist, wie die Ruine einer ehemals stolzen Burg.
Eine Burgruine, die, vor dem endgültigen Verfall bewahrt, mit einem
Besuchercafé und einem Parkplatz ausgerüstet wurde, erlaubt
es den Menschen, dieses Gefühl von Zeit zu fühlen. Und der Kuchen
schmeckt auch meist dazu. Man könnte noch ein kleines Museum einrichten,
und den Turm als Aussichtsplattform nutzen. So ist es vielen Burgen und Schlössern
in diesem Land ergangen, auch einigen in der Nachbarschaft der Schartenburg
- in Volkmarsen etwa, in Trendelburg, auf der Sababurg.
Nur wenige Burgen, die auf eine angemessene Weise verkehrsgünstig
liegen, finden eine glaubwürdig dauerhafte Nutzung als Hotel, Café
oder Jugendherberge.
Aber irgendwie bleibt dennoch ein schaler Beigeschmack
zurück: Mit frischem Gießbeton sind die Mauern überzogen,
es zerbricht und zerbröckelt nichts mehr, alle Wege sind gesichtert,
alle Bäume abgehackt. Keine Wurzeln, die noch Mauerwerk sprengen. Verbotsschilder
auf den Wegen, es gibt keine Fledermäuse, keine Falken, keine Füchse.
Stattdessen Bierdosen in den Papierkörben, die die Stadt dann doch
nicht leeren läßt, und Reste von Lagerfeuern und Grillabenden.
Ein unwürdiges Ende für eine Ruine. Ein Ende, das keines ist.
Vom Tourismus-Büro oder vom Landrat, der irgendwie auf Biegen und Brechen
Beschäftigung für sein "Arbeit-statt-Sozialhilfe"-Programm benötigt,
wird die Ruine in einem Zustand zwischen Leben und Tod gehalten. Denn in
einem komatösen Halbtod wird die Ruine am Verfallen gehindert, an einen
Wiederaufbau aber und eine Nutzung denkt natürlich auch keiner. Wieso
auch?
Im Gegenteil: Nicht alles Vergangene blieb erhalten. Vieles hat der Zahn
der Zeit, Plünderer, Kriege, Schnee und Frost schon längst aus
unserer Feldflur geräumt. Seit fast 10000 Jahren leben Menschen in Mitteleuropa,
die Dinge hinterlassen haben. Wir wanderten längst durch eine Müllkippe,
wären nicht längst auch viele ihrer Bauten verschwunden. Nicht
alles, was noch da ist, ist erhaltbar. Vieles ist einfach irreparabel beschädigt.
Burgruinen zum Beispiel, die Gräben der Landwehren, Römerlager,
vergammelte Fachwerkhäuser, auf sumpfigen Grund gestellte Altstadtbebauung.
Nicht alles Erhaltbare ist des Erhaltens würdig. Wir würden noch
immer die Nachttöpfe aus dem Fenster auf die rausgehängte Wäsche
des Nachbarn werfen, wenn nicht seit Jahrhunderten immer wieder irgend jemand
beherzt zur Spitzhacke gegriffen hätte. Städte, Dörfer und
die Landschaft drumherum wären vollständig möbliert, vollgestellt
mit Dingen, räumte jemand nicht ab und zu mal auf. Und während
das Wort "Möbel" von "mobil" kommt, sind es doch in Wahrheit Immobilien,
die im Weg herumstehen, würde man sich nicht regelmäßig
fragen, was das Ganze denn noch soll.
Unsere Burg steht niemandem im Weg herum, abreißen werden wir sie
nicht müssen. Sie stört keinen, sie ist im Gegenteil ein schönes
Wanderziel. Aber nützen wird sie auch niemandem mehr etwas. Sie besteht
nur noch aus einem Turm, der keine besonders gute Sicht hat, und einigen
verfallenden Mauern. Abseits der großen Wege und Straßen gelegen
sind es doch eher die Einheimischen, die sie aufsuchen. Interessant allemal,
schön auf ihre eigene Art, aber nützlich wird man sie wohl wirklich
nicht nennen. Und so hat die Schartenburg es verdient, auf ihre eigene Art
aus der Welt zu verschwinden. Dem allmählichen Verfall durch Wind und
Wetter preisgegeben wird sie verfallen. Der Frost wird Steine aus den Mauern
brechen, die Wurzeln werden die Mauern sprengen. Winterstürme werden
das Mauerwerk feucht werden lassen. Vielleicht werden wir Wanderfalken oder
einen Uhu auf den Mauerkronen brüten sehen. Die Bäume werden größer.
Wir werden das auf Jahre, Jahrzehnte hinaus verfolgen können, wir werden
uns an diese Burg erinnern - denn nicht zuletzt dafür wurde diese Web-Seite
eingerichtet.
Verfallende Burgen gehören zum Inventar der europäischen
Landschaft. Wir sollten sie in Ehren halten aus Achtung vor unserer Vergangenheit.
Aber einen würdigen Tod sollten wir ihnen auch gönnen. Jede Zeit hat ihre Spuren hinterlassen, und es wäre
unmöglich, sie alle
bewahren zu wollen. Im Gegenteil, es ist der Verfall bestimmter
Zeitspuren, die erst ihren Reiz ausmachen, uns erst die Vergänglichkeit
unseres irdischen Daseins spüren lassen und uns in Demut
vor dem Lauf der Dinge verharren lassen.